W. Schneider-Deters: Ukrainische Schicksalsjahre 2013–2019

Cover
Titel
Ukrainische Schicksalsjahre 2013–2019. Band 2: Die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass


Autor(en)
Schneider-Deters, Winfried
Erschienen
Anzahl Seiten
882 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rudolf Mark, Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften, Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr Hamburg

Winfried Schneider-Deters, langjähriger Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung, der viele Jahre als Leiter des „Kooperationsbüros Ukraine“ der Stiftung in Kyïv verbracht hat, ist einer der besten Analytiker und Kenner der Innen- und Außenpolitik der unabhängigen Ukraine. Eine ganze Reihe grundlegender Bücher und Abhandlungen zum Thema aus seiner Feder sind dafür ein anschaulicher Beleg.1 Seine neueste Publikation im Berliner Wissenschafts-Verlag ergänzt den unter gleichem Haupttitel erschienenen ersten Band „Der Volksaufstand auf dem Majdan im Winter 2013/2014“2 zu einem über 1.500-seitigen Werk.

In einem ausführlichen Vorwort, das auch eine erste hilfreiche Orientierung über Aufbau und Inhalt des fast 900 Seiten umfassenden Bandes gibt, beschreibt Schneider-Deters sein Buch als eine eher narrative Analyse der Geschehnisse in und um die Ukraine zwischen 2013 und 2019 denn als eine theoriegeleitete Studie. Was er vorlegt, ist eine umfassende Darlegung und Erörterung der Ereignisse auf der Basis empirischen Materials, das der Autor aber, wie er bekennt, nicht im Rahmen konkurrierender Lehrmeinungen der Theoretiker der internationalen Beziehungen auswerten wollte. Das entbehrt insofern nicht einer gewissen Logik, als Schneider-Deters tatsächlich eine kaum noch zu überschauende Anzahl von Quellen herangezogen hat, die er offensichtlich für sich selber sprechen lassen möchte.

Sie bestehen aus offiziellen Dokumenten und amtlichen Veröffentlichungen, aus Nachrichten und Informationen gedruckter und digitaler Medien, stammen aus der wissenschaftlichen Literatur und beruhen auf eigenen Erfahrungen und Erlebnissen, die der Autor als Zeuge des Volksaufstandes vor Ort gewonnen hat. Da viele Geschehnisse ohne Kenntnis von Raum, Kultur sowie Geschichte der Ukraine und Russlands kaum adäquat zu verstehen und zu beurteilen sind, setzt er voraus, dass seine Leserschaft ein „Minimum an Vorinformation durch seriöse Medien“ (S. 5) mitbringt. Schneider-Deters will das von ihm vorgelegte Kompendium auch als ein Nachschlagewerk für Interessierte verstehen. Dass man es anders auch kaum nutzen kann, macht schon sein dreizehn Seiten zählendes Inhaltsverzeichnis deutlich.

Zunächst ist das Werk in vier große Abschnitte oder Teilbereiche gegliedert. Teile I und II tragen die Überschrift „der ‚russische Frühling‘“ in ‚Neurussland‘“ sowie „Die Annexion der Krim“. „Russlands hybride Aggression gegen die Ukraine“ und schließlich „Pax Sinica – die Pazifizierung Eurasiens durch China“ folgen als weitere Abschnitte.

Im ersten Hauptteil werden der „Gegenwind aus Südost“, der Anti-Majdan in der Provinz, Wurzeln und Erscheinungsformen des Separatismus vor allem im Osten der Ukraine sowie die Grundzüge der „Putin-Doktrin“ und seines Sezessionsprogramms ausführlich dargestellt. Dem folgt im zweiten Teil die Annexion der Krim vor dem Hintergrund des, wie Schneider-Deters zu Recht hervorhebt, dubiosen historischen Anspruchs Russlands. Breiten Raum nehmen hier der Krimkonflikt im Kontext des internationalen Rechts, der russische Vertragsbruch mit Blick auf das Budapester Memorandum sowie die Geschichte der Krimtataren als „nationale Minderheit“ im eigenen Land ein. Russlands hybrider Krieg gegen die Ukraine wird im dritten Abschnitt als Fortsetzung der Putinschen Politik mit anderen Mitteln und unter Beleuchtung zentraler Aspekte intensiv erörtert.

Ausgehend von Valerij Gerasimovs Theorie „Vom hybriden Krieg“ werden nicht nur die militärischen Aktionen Russlands in den zentralen Regionen unter politisch-ideologischen, taktisch-operativen, propagandistischen, militärtechnischen und diplomatischen Fragestellungen dargestellt, sondern auch die ukrainischen Reaktionen auf die Herausforderungen und Ereignisse kritisch analysiert und erörtert. Vor allem in einzelnen Kapiteln dieses Teils werden Leserinnen und Leser höchst interessante Informationen über die Streitkräfte der sogenannten „Volksrepubliken“ als Moskaus Hilfstruppen finden oder auch aufschlussreiche Beobachtungen zu den militärischen Operationen Kyïvs gegen die Separatisten. Hier kann man zudem sonst selten publizierte Informationen über die militärische Katastrophe von Ilovajs’k, die Verteidigung des Flughafens von Doneck, das Debakel der ukrainischen Armee im „Kessel von Debal’ceve“ oder die ersten massiven Artillerieüberfälle auf Mariupol Ende 2014 und Anfang 2015 durch die russländische Armee finden. Über 13.000 Soldaten und Zivilisten sollen damals dem Krieg im Donbass zum Opfer gefallen sein. Der Autor fällt wohl zu Recht ein vernichtendes Urteil über die damalige militärische Führung und die politischen Verantwortlichen in Kyïv. Die „heillose Flucht der ukrainischen Truppen“ (S. 501) dürfte dann die Regierung zu grundlegenden Veränderungen in den Streitkräften geführt haben, wie nicht zuletzt deren Erfolge über die russischen Invasoren im Herbst 2022 deutlich gemacht haben. Auch die Opfer des Krieges im Donbass seit 2014, die „verheimlichten Toten“, Zahlen über Kriegsgefangene, Flüchtlinge und Verwundete werden in Einzelkapiteln der Leserschaft vor Augen geführt, wobei der Autor immer zugleich auf die fehlende Überprüfbarkeit der Angaben und auf Widersprüche hinweist.

Ausführlich geht Schneider-Deters auf den Minsk-Prozess ein, dessen bisherige Erfolglosigkeit er mit viel Recht den nicht kompatiblen Akteursinteressen, vor allem der Rolle Russlands als Kriegs- und Konfliktpartei zuschreibt. In seine Kritik werden aber auch die Staaten des Westens miteingeschlossen, die wie Moskau die „vollständige Erfüllung der Minsker Vereinbarungen“ (S. 597) beschwörten, aber dessen ungeachtet nichts dafür taten. Vor allem Minsk II, „ein unerfüllbares Abkommen“, wird vom Autor als für beide Seiten nützlich charakterisiert – um die jeweils eigene Unbeweglichkeit zu begründen und die Nichtumsetzung des Vertrages der jeweils anderen Seite anlasten zu können. Besonders kritisch wird vor allem die Rolle Angela Merkels beurteilt. Sie habe sich in den Gesprächen von Putin überlisten lassen, und ihre Bilanz etwa des Berliner Gipfeltreffens im „Normandie-Format“ am 16. Oktober 2016 sei nichts weiter als „diplomatische Schönfärberei“ gewesen (S. 626). Dass sie in ihrer Haltung gegenüber Putin und in ihrer Einschätzung der Ziele der russischen Ukrainepolitik sehr naiv und leichtgläubig gewesen sei, ist implizite wie explizite Kritik an der ehemaligen Bundeskanzlerin.

Im IV. Abschnitt nimmt Schneider-Deters die chinesischen Pläne zur Pazifizierung Eurasiens in den Fokus seiner Untersuchung. Hier sieht er die drei „geopolitischen Abstiegskandidaten“ Nordamerika, Europa und Russland herausgefordert, nicht zuletzt, weil etwa die EU durch die „Seuche“ des sich unter ihren Mitgliedsstaaten ausbreitenden nationalen Populismus bedroht sei (S. 715). Sich auf Wolfgang Ischinger stützend, moniert er die Defizite des europäischen Einigungsprozesses als höchst bedenklich, weil sie mit der Gefahr verbunden sind, dass die EU zwischen den „großen Drei“ zerrieben werden könnte.

Während man hier durchaus Zweifel anmelden kann, ist Schneider-Deters dagegen zuzustimmen, dass Russland seine Weltgeltung nicht mehr zurückgewinnen wird. Moskaus Versuch, seine verlorene Position – statt durch zivile technologische Innovationen – nach altem Muster militärisch zu erreichen, kann nur als wenig tauglich bezeichnet werden. Eine solche Politik werde lediglich den wirtschaftlichen Rückstand gegenüber „dem Westen“ und Russlands vielbeschworenem „strategischem Partner China“ vergrößern. Darüber hinaus wird vom Autor zu Recht die „Asian Infrastructure Investment Bank“ mit Sitz in Peking als „Chinas Arsenal ziviler Waffen zur Eroberung der Welt“ (S. 741) apostrophiert.

Das Buch endet mit der Frage, ob es „nach Putin“ einen Neubeginn geben könnte, was als Spekulation zwar reizvoll ist, aber auch von Schneider-Deters nicht wirklich beantwortet werden kann. Aus den von ihm hier zitierten Prognosen dürfte eine von Putins ehemals engstem Vertrauten, Vladislav Surkov, stammende noch am ehesten die Realität wiedergeben: Der „Putinsche Staat“ werde auch „nach Putin“ noch lange weiterleben.

In einem knappen Schlusswort beschwört Schneider-Deters einen „neuen Ost-West-Konflikt“ (S. 866) infolge des Aufstiegs Chinas und des Niedergangs von USA, Russland und EU. Ihnen drohe dann eine Existenz als Teile der Peripherie des Reichs der Mitte.

Man merkt dem Buch an, dass es unter einem gewissen Aktualitätsdruck geschrieben wurde. Zudem klingt manches Urteil etwas apodiktisch, auch wenn es häufig dem Mainstream der gängigen politologischen und publizistischen Einschätzungen folgt. Dazu zählen auch die wiederholten Bemerkungen zum angeblichen „Verständnis der Deutschen“ für Putin, was inzwischen aber wohl nur noch für politische Minderheitengruppen gelten dürfte. Dass es dessen ungeachtet zum Verhalten einiger westlicher Akteure und ihrer Politik möglicherweise Alternativen gegeben hätte oder dass wichtige Entscheidungen die Konfliktentwicklung beschleunigt haben, hätte allerdings die Aufmerksamkeit des Autors verdient. Dabei ist die Arbeit durchaus mit einem kritischen Blick auf die Kyïver Politik verfasst worden. Weniger ins Gewicht fällt, dass der Autor kein Historiker ist und manche seiner Ausflüge in die Geschichte der Ukraine nicht immer erhellend sind. Als Beispiel kann die Zahl der bei der Deportation 1944 umgekommenen Krimtataren gelten. Darüber werden bis heute Diskussionen geführt. In diesem Zusammenhang aber von „genozidale[r] Deportation“ (S. 330) zu sprechen, ist trotz allen Leidens unangemessen. Dessen ungeachtet hat Schneider-Deters ein beeindruckendes Kompendium der „ukrainischen Schicksalsjahre“ vorgelegt, das man tatsächlich mit Gewinn zur Hand nehmen wird.

Im Anhang findet der Leser ein knappes Quellenverzeichnis, das die herangezogenen Angaben aus Internet-Publikationen aber nicht erfasst. Auch wenn das Buch eher Fachleute und mit Osteuropa vertraute Leserinnen und Leser ansprechen wird, hätten ein oder zwei Karten zu den territorialen Verhältnissen und wichtigsten Kommunikationslinien den Text sinnvoll ergänzt. Vermisst werden auch ein Namens- und Ortsregister. Dem positiven Gesamteindruck tut dies aber keinen Abbruch.

Anmerkungen:
1 Winfried Schneider-Deters, Die Ukraine, in: ders. u.a. (Hrsg.), Die Europäische Union, Russland und Eurasien. Die Rückkehr der Geopolitik, Berlin 2008, S. 239–406; ders., Die Ukraine – Machtvakuum zwischen Russland und der Europäischen Union, Berlin 2012.
2 Winfried Schneider-Deters, Ukrainische Schicksalsjahre 2013–2019. Band 1: Der Volksaufstand auf dem Majdan im Winter 2013/2014, Berlin 2021.

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